Eine Frage der Zeit
von Eva-Maria Marx, 2020/21
Eine – erfundene – Geschichte, die in der Kölner Nachkriegszeit spielt. Zeiten und Orte
„Wer soll das bezahlen?“ schallte der neueste Schlager von Jupp Schmitz aus einem Fenster. Elsa wechselte die Straßenseite, um nicht gesehen zu werden. In ihrem braunen Rock, den dicken Strumpfhosen, den dunklen Schnürschuhen und dem alten Trenchcoat von Sammy wirkte sie alles andere als karnevalistisch aufgelegt. Sie zog sich den blauen Schal, den ihre Oma ihr 1933 geschenkt hatte, über ihr dunkelbraunes Haar. Ihren 13. Geburtstag hatte sie damals gefeiert. Ihre ganze Familie hatte sich mit ihr gefreut. Es gab ein Fest mit all ihren Leibgerichten: Schokoküchlein mit 13 Kerzen, Marmelade auf Rosinenbrötchen und später abends Flönz und Sauerkraut und Kartoffelpüree. Daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie hatte Hunger. Seit sie nicht mehr als Trümmerfrau arbeitete, hatte sie zwar eine Aushilfsstelle in einer Apotheke, aber ohne Zockerei auf dem Schwarzmarkt hätten ihre Mutter und sie selbst in diesem Winter sogar zu wenig Kohlen für den Ofen gehabt. Immer wieder hatte sie dazu in den Schmuckkasten ihrer Oma greifen müssen, die den Krieg nicht überlebt hatte. Gram und Kummer hatten ihrem Alter zugesetzt. Die Söhne allesamt an der Front. Der Jüngste überlebte nicht. Elsas Vater. Als Elsas Mutter die Hiobsbotschaft erreichte, fiel diese in einen dreitägigen apathischen Zustand. Die trauernde Oma beruhigte sich selbst, indem sie ihre Schwiegertochter bekochte und sich auch um Elsa kümmerte, die allerdings mehr und mehr ihren eigenen Weg ging.
Der BDM gab ihr Halt und Zuversicht. Die Freundinnen, die sie dort gewann, waren noch immer treue Weggefährtinnen. Drei Wochen Trümmerräumarbeiten hatte sie mit Hildegard, Evelin und Greta noch enger zusammengeschweißt. Viele Linientreue wurden schnell zum Aufräumen unter alliierter Aufsicht abkommandiert. Immerhin gab es ein paar Pfennige und zusätzliche Lebensmittelkarten. Die fehlten ihr jetzt. Zwar verdiente sie nun mehr als in den Trümmerjahren, aber essbare Kostbarkeiten wie Fleisch oder Zucker war nach wie vor noch Mangelware und nur mit Lebensmittelkarten oder im Tausch zu ergattern. Zutaten für einen Schokokuchen, wie sie ihn liebte, waren Luxus. Und gar so etwas wie eine gehaltvolle Fischsuppe wäre mal ein Glücksfall. Später würde sie noch auf den Markt gehen. Das musste jetzt warten.
„Heidewitzka, Herr Kapitän“ summte eine gutgelaunte Mädchengruppe ihr entgegen, hakte sie ein und wollte sie mitziehen. Sie entzog sich unsicher lächelnd, mit dem Hinweis, sie wolle in die andere Richtung.
1949: Der erste Kölner Karneval seit 10 Jahren. Aber Elsa war nicht wirklich dabei, konnte nicht lachen über den doch sehr gelungenen Hit „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“, der landesweit kursierte, konnte nicht tanzen zum Tschimmela Tschimmela, obwohl sie sich noch gut an den letzten Karneval 1939 erinnerte. Da war sie gerade 19 gewesen. Und ein bisschen verliebt in Heinz, den überzeugten Hitlerjungen, der sich mit ihr verloben wollte, als er eingezogen wurde, an die russische Front. Seit sechs Jahren hatte sie nichts von ihm gehört. Seine Mutter erzählte überall, er sei bei den nächsten Entlassungen von Kriegsgefangenen aus Russland. Die Nachbarn waren skeptisch. Hätte er nicht geschrieben? Die Post funktionierte doch wieder hervorragend.
Jetzt erinnerte sie sich kaum mehr an sein Aussehen. Und seine Abwesenheit war nicht das, was sie heute antrieb. Ein Mann schwankte auf sie zu und sang erbarmungslos in ihr Ohr: „Wir haben Mägdelein mit feurig wildem Wesien…“ er roch nach schlechtem Fusel und zog zum Glück gleich weiter.
Sie lehnte sich an eine Hauswand, schwer atmend, Tränen liefen ihr über ihre Wangen, unaufhaltsam. Sammy war verschwunden. Ihr Boyfriend, wie er ihr erklärt hatte. Mit seinem sanften Mund, dem lockigen, kurzen Haar. Sie vermisste ihn schmerzhaft, stellte sie fest. Wie konnte sie nur so dumm sein. Für ein paar Geschenke mitzugehen. Wenn er nicht so süß gewesen wäre, sagte sie sich.
Als Köln Anfang März 1945 von den Amerikanern eingenommen wurde, herrschte in der Stadt eine unheimliche Stille. Erst nach Tagen begannen die wenigen Menschen, die in der zerbombten Stadt, oft unterirdisch, ausgeharrt hatten, sich freier zu fühlen. Die Verluste, der andernorts noch andauernde Krieg und der Alltag mit seinen Plagen und der Sorge um das Allernötigste überschattete die aufkeimende Lebensfreude. Die GIs verstanden es dennoch ihnen ein bisschen Lust und Freude zu entlocken. Mit Kaugummi, Jazzmusik, Schokolade, Zigaretten und ihren eigenen Care-Paketen versuchten viele Soldaten wenigstens die jungen Deutschen für sich einzunehmen. Sie hatte Sammy zugesehen, wie er ihrem Nachbarjungen Alex mit der hohlen Hand eine triumphierende Trompete vorgaukelte. Mit offenem Mund staunte Alex. Sie war sich nicht sicher, ob wegen der fremden Klänge, der Darbietung oder seines dunkelhäutigen Aussehens inklusive Uniform. „Hey, nice girl, come on“ winkte er ihr herüber. Sie traute sich und ihm – und irgendwie verständigten sie sich über Sprachgrenzen hinweg. Gestikulierend und lachend spazierten sie durch die Trümmer. Am nächsten Tag zur gleichen Zeit.
So fing es an und unbekannte Gefühle hatten ihren Willen zersetzt, ihre BDM-Moral völlig umgekrempelt. Und es fühlte sich frei und echt an. Seine Vorfahren stammten aus Afrika und waren in den USA Sklaven gewesen. Afrika, gar nicht so weit wie die Staaten, dachte sie und musste lächelnd an seinen zärtlichen Blick denken. Zwar hatte er schon im Sommer weiterziehen müssen und die Briten übernahmen die Besatzung, aber wenigstens zweimal hatte er sie bis 1946 in seinen wenigen Urlaubstagen in Köln besucht. Obwohl er das offiziell gar nicht durfte. In den heimlichen Begegnungen in seinem schicken Hotelzimmer schufen sie sich eine Welt, in der nichts bedrohlich war. Eine heile Welt. Die konnte er zaubern. Und im wirklichen Leben war er tatsächlich Musiker. Bezaubern lag ihm im Blut, fand Elsa. 1947 wurde er dann zurück geschickt nach Amerika. Eine trostlose Zeit begann. Sie sah nur noch die Trümmer und die hungernden Menschen. Endlich hatten sie sich dann im späten Herbst wieder getroffen. Er war auf einer Europa-Tournee mit seiner Band. Jazz boomte. Einen Auftritt hatten sie auch in Köln, in der neuen Eisdiele von Gigi Campis, die ganzjährig geöffnet war.
Das half jetzt alles nichts. Er war nicht da – und auch wenn er da gewesen wäre: Helfen hätte er nur können, indem er ihr den Arzt bezahlte, den sie gerade aufsuchen wollte. Den Frauenarzt, den ihr Hildegard empfohlen hatte.
Seit seinem letzten Besuch war ihre Regel ausgeblieben – und das konnte nur bedeuten, dass sie schwanger war. Zeitlich kam das hin. Wie schön es gewesen war mit ihm. Doch undenkbar das Kind auszutragen. Selbst wenn er sie heiraten wollte und selbst wenn er dürfte als ehemaliger Soldat: Wo sollten sie leben, mit einem schwarzen Balg? Und das, was er über sein Heimatland und gemischte Ehen erzählte, klang auch nicht vielversprechend. Alles war so schon schwer genug, der ärgste Hunger gerade überwunden. Schweren Herzens, aber unbeirrt, schritt sie weiter. Abtreibungen waren eine Sünde und strafbar, wenn es keine Vergewaltigung gewesen war, aber viele Ärzte hatten in diesen Zeiten Mitgefühl mit den vielen männerlosen Frauen, die alles für das Überleben ihrer Familien taten. Auch Dr. Lummer, sagte Hildegard. Woher sie das wusste, hatte Elsa nicht ganz verstanden. Sie hatte nicht weiter nachgefragt.
Sie hoffte auf sein ärztliches Verständnis und eine schnelle, saubere Sache, die sie vielleicht zunächst mit einem Schuldschein begleichen konnte. Wie sie ihr Unwohlsein zu Hause erklären solle, daran mochte sie noch nicht denken.
Nur das: Bald war doch sicher alles überstanden – bald sollte es dann endlich für Elsa Aussichten auf bessere Zeiten geben. Sammy, war dann weit weg. Daran würde sie sich gewöhnen müssen. Sie würde sich neu verlieben, irgendwann. Glücklich sein mit deutschem Mann und Kindern. Wie eine Fata Morgana legte sich das Bild vor ihr inneres Auge, während sie zitternd die Arztpraxis betrat.